„Wie geht es Ihnen Frau Fjodorowa?“ erkundigte sich die Kassierin, als Katja den Laden betrat.
Katja lächelte. „Gut, danke. Und Ihnen Frau Minkowitsch?“
Frau Minkowitsch zuckte mit den Achseln. „So gut wie es einem gehen kann in Zeiten wie diesen.“ Sie deutete auf den Laden und schluckte kurz. Die Regale waren mehr leer als voll und was noch da war, kostete unglaublich viel. Viele Leute konnten sich mittlerweile nur noch das Nötigste leisten. Die Preise für Lebensmittel waren in den letzten Monaten unglaublich stark gestiegen und es sah nicht so aus als würden sie demnächst wieder sinken. Katja versuchte zuversichtlich zu lächeln. „Es werden sicherlich bessere Zeiten kommen. Die Sonne scheint immer nach dem Regen.“
„Ich weiss nicht.“ Seufzte Frau Minkowitsch. „Ich kann mich nicht an solche Zeiten erinnern.“ Das bedeutete viel, denn die Frau war schon über sechzig und hatte einiges gesehen. „Selbst die Geschichten vom Krieg, die meine Mutter immer so oft erzählte, wenn es uns nicht gut ging, scheinen nicht so schlimm zu sein, wie das was wir jetzt erleben.“
Katja bezweifelte es, auch sie hatte von ihren Eltern die Geschichten über den Krieg gehört. Diese waren damals jünger gewesen, als es Frau Minkowitschs Eltern gewesen waren, dennoch hatten auch sie von Schrecklichem berichtet. Doch tatsächlich, Katja hatte auch noch nie solche Zeiten erlebt. Selbst vor dem Fall des Vorhanges war es nicht so schlimm gewesen. „Mein Mann,“ fuhr Frau Minkowitsch fort. „hat sich freiwillig für den Fischfang gemeldet. Eigentlich ist er zu alt, aber dank den Beziehungen aus früherer Zeit hat er doch einen Platz gefunden. Da war er jahrelang als Fischer unterwegs und als wir genug gespart haben, konnten wir diesen Laden eröffnen. Nun muss ich die Arbeit alleine machen, damit er wieder Fische fangen kann, damit wir genug Geld machen. Nun ja, es ist ja nicht so, dass ich zu viel Arbeit hätte hier. So wenige Produkte und noch weniger Leute, die hier einkaufen kommen. Sie sind meine treueste Kundin. Mein armer Sergej, er hat dauernd Rückenschmerzen und seine Hände sind wieder stark geschwollen und schmerzen ebenfalls die ganze Zeit. Aber was soll man machen. Schliesslich muss jeder überleben.“ Katja, sah wie der Frau ein wenig die Tränen in die Augen traten. „Zu allem übel gibt es weniger Gas und das obwohl der Winter noch nicht ganz durch ist. Wir können nicht mehr heizen, denn sonst können wir nichts kochen und Essen muss man ja. Natürlich haben wir noch genügend alte Kleider, die wir überstreifen können, aber ich bin froh kommt bald der Sommer.“ Bald hiess jedoch erst so in vier Monaten. Es hatte nochmals einen Kälteeinbruch gegeben und viele Menschen waren erfroren, nicht nur solche die auf der Strasse lebten, sondern auch einige in ihren Häusern, die einfach nicht mehr heizen konnten. „Unser Sohn Vitali hat sich bei der Armee gemeldet, seine Arbeit als Maler hat er nicht mehr. Sie mussten Leute entlassen um zu überleben. Aber in der Armee hat er wenigstens zu Essen und es ist auch etwas wärmer.“ Ihr Blick fiel auf die Zeitung von heute, auf der Titelseite war ein weiterer Artikel über den Mord an einer Prostituierten. Anscheinend gab es einen Zusammenhang zum Sohn des Innenministers. „Aber die Reichen, die haben es gut.“ Fuhr Frau Minkowitsch fort, während Katja ihren Einkauf tätigte. Vieles gab es wirklich nicht mehr. „Sie können weiter in ihren teuren Karrossen herumfahren und Menschen töten, ohne dass etwas geschieht.“ Die Frau blickte hinüber zu Katja und meinte: „Das arme Ding versuchte bestimmt auch nur zu überleben, wie wir alle. Dann kommt so ein reicher Schnösel und tötet sie. Ist diese Welt nicht ungerecht?“
„Das ist sie.“ Erwiderte Katja und brachte die paar wenigen Sachen, die sie gefunden hatte zur Kasse.
„Zum Glück kommen Sie noch bei uns vorbei, Frau Fjodorowa. Zum Glück geht es Ihnen noch einigermassen gut.“ Frau Minkowitsch packte die wenigen Sachen in eine Tüte, dann tippte sie den Preis in die Kasse. Sie hatte nie gefragt, weshalb Katja noch Geld hatte um einmal pro Woche einzukaufen. Katja gab ihr dann auch mehr als es eigentlich kostete, so wie sie es in letzter Zeit immer getan hatte. „Vielen Dank, Frau Fjodorowa. Gott behüte Sie.“ Sagte Frau Minkowitsch, welche nun tatsächlich wässerige Augen hatte.
„Grüssen Sie Ihre Familie.“ Erwiderte Katja nur und verliess den Laden. Die Frau tat ihr richtig leid, doch Katja konnte ihr auch nicht alles geben, was sie besass. Dennoch sie hoffte, dass die Frau so etwas ruhiger schlafen konnte, zumindest für ein paar Tage.
Katja ging eilig die Strasse hinunter. Sie versuchte nicht auf die Leute zu achten, welche argwöhnisch ihre Einkaufstüte betrachteten. Sie verfluchte sich innerlich, dass sie wieder nicht einen Rucksack oder eine andere Tasche mitgebracht hatte, so dass man nicht sah, dass sie gerade etwas eingekauft hatte. Sie befand sich in einem Arbeiterquartier und wie üblich waren es diese Leute, welche am härtesten von der schlechten Lage betroffen waren. Viele Geschäfte hatten geschlossen, niemand konnte etwas kaufen, also konnte man auch nicht produzieren. Die Männer standen auf der Strasse und unterhielten sich. Viele hatten ihre Arbeit verloren und sahen keine Perspektive mehr. Die Welt war zunehmend erdrückender geworden. Die Sonne schien, doch sie vertrieb die Kälte in den Herzen der Menschen nicht wirklich. Katja fragte sich wie lange es dauerte, bis diese Leute kriminell wurden. Nicht dass sie es ihnen verübeln würde, was konnte man sonst tun. Sie wusste nur zu gut, zu was man bereit war, wenn man am Abgrund stand.
Katja betrat eine Wohnsiedlung und ging geradewegs auf einen der grossen Plattenbauten zu. Es waren typische Gebäude aus der Zeit des Eisernen Vorhangs. Hässliche Gebäude, die möglichst alle gleich aussehen sollten und Funktionalität ausstrahlen mussten. Ästhetik war damals ein Fremdwort gewesen. Katja ging auf die erste Tür im Erdgeschoss zu und öffnete diese mit ihrem Schlüssel. Gleich als sie eintrat, bemerkte sie, dass etwas anders war. Sie blickte links um die Ecke in die Küche und entdeckte die beiden Männer. Auf einem Stuhl am kleinen Tisch sass Dimitri. Der grosse, schlanke Mann mit den dunklen Haaren und der feinen goldenen Brille lächelte verlegen zur Seite. An den Herd gelehnt mit einem Glas in der Hand befand sich Andrej. Dieser wandte nur kurz den Blick und zeigte ebenfalls den Anflug eines Lächelns. Katja betrachtete die beiden Männer, sie sahen aus wie zwei gute Freunde, welche ein Glas Wodka teilten. Nun sie waren sicherlich gute Freunde, obwohl sie ein sehr ungleiches Paar waren. Dimitri war ein Polizist und Andrej bezeichnete sich am liebsten als Auftragsmörder. Wie gesagt ein eher ungleiches Paar.
„Hallo Dimitri.“ Begrüsste Katja den Gast und betrat die Küche. Dimitri erhob sich und reichte ihr die Hand, doch Katja hatte die Einkaufstüte auf den Tisch gestellt und den grossen schlanken Mann kurz umarmt. Als sie in sein Gesicht schaute, bemerkte sie, wie er rot anlief und sich beschämt abwandte.
„Hast du Fleisch gekauft?“ wollte Andrej hinter ihr wissen, während er die Einkaufstüte durchwühlte. Katja schaute ihn mit strengem Blick an und erklärte: „Fleisch ist viel zu teuer, wir können es uns nicht jede Woche leisten.“
„Verdammt!“ fluchte Andrej und trank seinen Wodka in einem Zug. „So langsam wird die Sache echt unmöglich. Ich werde bei Gelegenheit in den Wald gehen und uns ein Kaninchen schiessen.“
„Gerne.“ Erwiderte Katja und packte die Sachen aus. „Aber ich glaube nicht, dass du Erfolg haben wirst. Ein Kaninchen ist ziemlich schnell.“
Andrej blickte sie beleidigt an und sagte mit trotzigem Unterton: „Ich bin Meisterschütze, ein Kaninchen schiesse ich mit links.“ Katja erwiderte nichts mehr, aber ihr Blick verriet genug Skepsis. Statt dessen wandte sie sich an Dimitri, welcher sich wieder gesetzt hatte und sich mit der Hand durch das dunkle Haar fuhr. „Bleibst du zum Essen?“
Dimitri schüttelte den Kopf und schaute über den Brillenrand zu ihr hoch. „Ich muss leider gleich wieder los.“ Sein Blick fuhr kurz hinüber zu Andrej, der sich daran gemacht hatte sein Glas wieder aufzufüllen.
Katja schaute ebenfalls zu Andrej und als sie die Blicke der beiden Männer deutete, meinte sie: „Ihr führt etwas im Schilde.“ Keiner der beiden antwortete, doch das bestätigte Katjas Annahme. „Ist es...?“ sie konnte es nicht aussprechen. Eigentlich wusste sie was die beiden taten, sie hatte schliesslich ihre Dienste in Anspruch genommen um den Mord an ihrem Bruder zu rächen. Die beiden Männer standen hinter dem Mythos, welcher sich Wolk nannte. Eigentlich war Andrej dieser Mythos, doch er arbeitete mit Dimitri zusammen, meist wies Dimitri auf Geschehnisse hin, die Andrej lösen musste. So wie Dimitri Andrej zu Katja geführt hatte. Meist waren es Morde, nur selten ein Diebstahl und noch seltener beschützten sie jemanden. Aber obwohl Katja wusste, was die Männer taten und auch wusste, dass ihre Opfer den Tod mehr als verdient hatten, so verspürte sie eine Abneigung die Dinge beim Namen zu nennen.
„Wir müssen jemanden beschützen.“ Sagte Andrej mit ruhiger Stimme und deutete auf die Zeitung. „Wir müssen diesen Journalisten vor Stari und D’javol beschützen.“ Katja wusste nicht ob sie erleichtert sein sollte. Jemanden beschützen konnte sie besser mit ihrer Moral vereinbaren, aber wenn es darum ging gegen Stari und D’javol vorzugehen, dann war Erleichterung fehl am Platz. Vielmehr verspürte sie Angst. Der Bluthund hatte ihr damals Geschichten über die beiden erzählt und ihr war bewusst, dass er sich insgeheim vor ihnen gefürchtet hatte. Sie war sich nicht sicher wer ihm mehr Angst gemacht hatte, Stari oder D’javol.