Dimitri zog seinen Mantel enger an sich, als er durch den dunklen Innenhof eilte. Er wollte eigentlich ruhigen und gemächlichen Schrittes auf den Wohnblock zugehen, doch die Kälte trieb ihn an schneller zu gehen. Es war noch früh morgens und niemand war bis jetzt auf den Strassen unterwegs.
Er erreichte die Eingangstür des Blockes und fand diese offen vor. Vor ihm öffnete sich ein dunkler Gang, welcher Dimitri hinein in die Finsternis führte. Eine Treppe führte ihn hinauf, durch einen schlecht beleuchteten Gang. Vereinzelt brannte an der Decke eine Glühbirne in einer kaputten Fassung, doch diese spendete kaum mehr als gräuliches Zwielicht. Hinter den verschlossenen Türen war nichts zu hören, nicht weil niemand da war, sondern weil niemand da sein wollte. Auf der zweiten Etage traf Dimitri auf die erste Gruppe an Leichen, drei Männer, welche übereinander lagen, neben jedem lag eine Waffe. Dimitri blickte hinunter in einen Gang, dessen Deckenlampen rot beleuchtet waren und an dessen Ende eine Tür geöffnet war, aus welcher ein schummeriges Licht drang. Dimitri richtete seine feine Brille und ging den Gang hinunter. Auf seinem Weg musste er nochmals über eine Männerleiche steigen. Hinter einzelnen Türen hörte er leichte Schritte. Frauen, die weg von der Tür rannten. Dimitri überlegte was wohl mit ihnen geschehen würde. Wolk war erneut voreilig gewesen.
Dimitri erreichte die Tür und blickte in das Zimmer, welches sich ihm eröffnete. Auf einem Sessel sass ein Mann der Mitte vierzig war. Seine Augen waren weit aufgerissen, wie von Schreck und er starrte auf einen Punkt vor sich. Dimitri konnte sich gut vorstellen, dass dieser Punkt einst Wolk gewesen war. Dieser sass an einem Tisch und las in einem kleinen Buch. Ging es um Gewalt und Tod dachte Dimitri nicht an Andrej, seinen Freund, sondern sah nur den bösen Wolf.
„Sie hat ein Tagebuch geschrieben.“ Erklärte Wolk ohne aufzublicken. „Er hat es behalten, keine Ahnung weshalb.“
Dimitri richtete seinen Blick erneut auf die Leiche im Sessel. Er war von kleiner Statur aber sehr muskulös gewesen. Er trug teure Kleidung und eine Menge Schmuck, Goldkette, eine teure Uhr und mehrere Ringe. Erst bei genauerem Hinschauen entdeckte Dimitri die Wunde in der Brust. Wolk hatte wohl direkt auf das Herz geschossen.
Dieser sass seelenruhig am Tisch und blätterte durch das Tagebuch des Mädchens. „Weshalb schaust du mich so an?“ fragte er Dimitri ohne hoch zu blicken.
„Es ähnelt dir nicht eine solche Spur an Leichen zurück zu lassen.“ Erklärte Dimitri und schaute sich weiter im Zimmer um. Er hoffte irgendwo einen Computer oder sonst irgendwelche Informationen zu finden. „Man könnte fast meinen, dass es ein Gefühlsausbruch gewesen sei.“ Erklärte Dimitri weiter und ging hinüber zu einem weiteren Tisch.
Nun war es an Andrej den Blick zu heben und seinen Freund mit den goldenen Brillengläsern anzustarren. Dieser ignorierte jedoch den Blick des Wolfes.
„Wir kennen uns nun schon lange.“ Sagte Andrej mit gereizter Stimme. „Ich habe schon mehrere Male Leute getötet und nun da ich diese Sklaventreiber niedermache, beginnst du mich zu kritisieren?“
Schliesslich wandte Dimitri sich seinem Freund zu und er war erstaunt über die Regungen, die er in dessen Gesicht sah. Zorn spiegelte sich in seinen Augen, doch es war nicht Zorn über Dimitri, sondern über das was er hier vorgefunden hatte. Dimitris Augen zogen sich zusammen. „Versteh mich nicht falsch, ich glaube nicht, dass es falsch war die Männer zu töten, weil sie es nicht verdient hätten. Bisher hast du aber noch nie getötet, wenn es nicht nötig war. Ich kenne dich, du tötest wenn du musst, aber es war bisher immer... Emotionslos.“
„Nicht mal ich töte ohne Emotionen.“ Entgegnete Wolk kühl und auch ein wenig trotzig.
„Natürlich, aber du tötest nur dann wenn es wirklich nötig ist und etwas bewirkt.“ Stellte Dimitri sachlich fest. „Ich glaube nicht, dass du etwas von ihm erfahren hast.“ Er deutete auf den Toten im Sessel. „Und den Frauen hier hast du auch keinen Gefallen getan. Du hast sie einfach noch mehr Gewalt ausgesetzt.“
Wolk schloss das kleine Büchlein und steckte es in seine Jackentasche. „Du hast Recht.“ Erwiderte Andrej und Dimitri warf ihm einen überraschten Blick zu. Andrej schaute hinüber zum Mann im Sessel und sagte: „Männer wie ihn habe ich im Krieg oft gesehen. Sie sind böse und nicht wie die Menschen, die Böses tun aus Angst, sondern weil sie die Möglichkeit nutzen. Ein Opportunist des Bösen. Keine Skrupel, keine Moral, keine Banalität des Bösen. Einfach nur Böse. Der Krieg hat sie verdorben oder vielleicht sind sie schon so zur Welt gekommen. Ich weiss es nicht. Solche Menschen verlassen das Schlachtfeld nie, sie tun sich mit Gleichen zusammen und tragen das Schlachtfeld mit sich.
Krieg ist organisiert und geplant. Es geht darum die eigenen Interessen zu sichern, egal zu welchen Kosten. Der Tod des Gegners wird in Kauf genommen, ja sogar angestrebt. Diese Frauen hier, erleben genau das, einen organisierten und mit Gewalt ausgetragenen Konflikt. Sie erleben sämtliche Elemente der Definition. Nur sind sie keine Soldaten. Sie haben keine Möglichkeit sich zu wehren.“ Wolk erhob sich und verstaute das kleine Tagebuch in seiner Jackentasche und schaute nochmals auf den Toten im Sessel. „Er war Soldat im Krieg, nun ist er als solcher gestorben. Er hat sein Leben gewählt, im Gegensatz zu den Frauen.“
Dimitri erwiderte nichts. Er hätte sagen können, dass auch Wolk dieses Leben gewählt hatte und dass er im Grunde gleich war wie der Tote auf dem Sessel. Doch er schwieg. Nicht weil er Wolk die Wahrheit verschweigen wollte, er war sich sicher, dass sie diesem bewusst war. Nein, er wollte nichts sagen, weil er ebenfalls dieses Leben gewählt hatte. Sie hatten sich beide dafür entschieden den Krieg zu führen. Nicht um ihn zu gewinnen, diese Hoffnung hegte keiner von beiden. Nein, sie führten ihn, weil jemand es tun musste. Er blickte zum Toten im Sessel. Sie nahmen den Tod des Gegners in Kauf.
„Hast du irgendwelche Informationen gefunden?“ fragte Dimitri stattdessen.
Wolk schüttelte den Kopf. „Nein, nicht einmal in ihrem Tagebuch gibt es etwas.“
„Dann ist es gelaufen.“ Sagte Dimitri resigniert. Wolk erwiderte nichts. Er ging in Richtung Tür, doch bevor er das Zimmer verliess meinte er noch: „Vielleicht ist es an der Zeit den Krieg hinauf zu denen zu tragen, die ihn bewusst nähren.“
Dimitri schaute hinüber zum Mann den er als Freund bezeichnete, obwohl er kaum etwas über ihn wusste. „Vielleicht ist es Zeit.“ Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort. „Aber vielleicht können wir einen letzten Bluff riskieren.“