Katja, Andrej und Anton sassen in der kleinen Küche. Anton lass im Tagebuch von Ana während Andrej an einem Glas Wodka nippte und Katja am Fenster sass und hinaus in den grauen Himmel blickte. Sie dachte daran, woher Andrej das Tagebuch hatte und wen er dort vorgefunden hatte. In den wenigen Monaten seit sie ihn nun kannte, war der Mann nie so aufgebracht gewesen, wie in dieser Nacht. Es war eine Anspannung, die sich durch Schweigen und ausweichende Blicke äusserte. Andrej war nie ein grosser Redner gewesen, doch meistens hatte er eine fröhliche Natur an den Tag gelegt und viel gegrinst. Viel Zynismus lag ihm inne und stets war das Gefühl einer dunklen Seite in seinem Wesen vorhanden gewesen. Doch in dieser Nacht war die dunkle Seite förmlich zu sehen. Er konnte sich kaum zu einem Lächeln durchringen und seine Hände schienen jeden Moment etwas greifen und werfen zu wollen. Katja sah ihm förmlich an, wie er sich beherrschen musste um nicht in wütende Raserei zu verfallen.
Anton schloss das Buch und legte es auf den Tisch. Er schaute hinüber zu Andrej, welcher mit dem Glas in seiner Hand spielte und den anderen Mann nicht beachtete. Anton leerte sein Glas mit Wodka und nahm die Flasche um sich erneut einzuschenken. Andrej hielt ihm seines hin. Katja erhob sich und holte ebenfalls ein Glas, welches sie auf den Tisch stellte. Als alle drei ihr Glas hielten, hob Anton seines in die Höhe und meinte: „Auf gefallene Engel.“
Die drei tranken schweigend ihre Gläser. Nach einer Weile meinte Anton: „Wir haben also nichts.“ Andrej nickte schweigend. Anton überlegte kurz, dann sagte er: „Ich werde trotzdem einen Artikel schreiben.“
Andrej schaute ihn fragend an: „Und dann?“
„Dann wird die Wahrheit stehen.“ Entgegnete Anton mit bestimmter Stimme und schaute Andrej fest in die Augen. „Mein Wort hat Gewicht, die Menschen kennen mich und wissen worüber ich schreibe.“
„Ja, das tun sie. Vielleicht glauben sie es sogar.“ Sagte Andrej mit ruhiger Stimme. „Und dann? Es gibt keine Beweise. Es steht Aussage gegen Aussage. Die Geschichte verkommt zu einem Mythos. Kein Gericht müsste sich darum kümmern und selbst wenn, würde alles zerstört sobald Sie tot sind.“ Anton erwiderte nichts darauf und Andrej fuhr fort. „Selbst ich kann Sie nicht beschützen, wenn es vor Gericht oder ins Fernsehen geht. Dieser Weg führt über die Öffentlichkeit und dort sind Sie eine lebende Zielscheibe.“
Anton starrte auf das Glas vor ihm. „Ich habe so oder so nichts um zu verhandeln.“
„Das stimmt. Sie müssen untertauchen, egal was geschieht.“ Erwiderte Andrej und schaute nun seinem Gegenüber direkt in die Augen. „Aber es gibt eine letzte Möglichkeit um Beweise zu erhalten.“ Anton wandte sich mit fragendem Blick Andrej zu. Der Mann, der Wolf genannt wurde sprach mit ruhiger Stimme. „Wir arrangieren ein Treffen mit den Günstlingen der Regierung um einen Austausch durchzuführen. Bei diesem Treffen schauen wir, dass es zu einer kompromittierenden Aussage kommt. Diese holen wir uns auf Tonband und legen den Medien vor. Damit hätten wir genug um etwas zu Bewegen, ohne dass Sie in der Öffentlichkeit stehen müssen. Das Band würde für sich sprechen.“
„Ich müsste trotzdem öffentlich sprechen.“ Erwiderte Anton skeptisch.
„Ja, aber nicht so oft.“ Meinte Andrej ruhig. „Die Stimme würde für Sie sprechen.“
„Ausserdem wären die Beweise immer noch da, es wäre gefährlicher mich zu töten, sobald diese öffentlich sind.“ Anton ergänzte den Gedankengang.
Katja fuhr dazwischen. „Wenn es ein Treffen gibt, wird man Sie töten.“
„Nicht an einem öffentlichen Ort.“ Entgegnete Anton ruhig, wobei sein Blick zu Boden glitt.
„An einem öffentlichen Ort, werden sie keine Aussage machen.“ Sagte Andrej mit schwerer Stimme. „Das werden sie nur dort machen, wo sie sich in Sicherheit fühlen.“
Anton überlegte kurz und meinte: „Dann werden sie mich töten.“
„Sie werden es versuchen.“ Bestätigte Andrej mit kühler Stimme. „Aber ich werde alles daran setzen um Sie zu beschützen.“
„Nicht einmal du kannst gegen die Regierungsgewalt bestehen!“ rief Katja aufgebracht dazwischen. Sie schaute zu den beiden Männern, doch diese wichen ihrem Blick aus.
Andrej schaute zu Anton und meinte: „Nicht alleine, das stimmt.“ Dann erörterte er ihnen seinen Plan. Als er fertig war, schwiegen alle einen Augenblick. Schliesslich war es Katja, welche aussprach, was alle dachten. „Dieser Plan ist wahnsinnig. Er ist zu gefährlich und völlig... wahnsinnig.“
Keiner der beiden Männer erwiderte etwas. Andrej spielte erneut mit seinem Glas. Er würde die Entscheidung Anton überlassen. Katja konnte nicht glauben, dass dieser tatsächlich über den Vorschlag nachdachte.
„Er ist gefährlich und wahnwitzig.“ Sagte Anton schliesslich. „Aber diese Welt ist wahnsinnig, vielleicht kann nur so etwas verändert werden.“ Er nahm das Tagebuch in die Hand und meinte: „Unser Land ist ein Sumpf. Die Reichen und Mächtigen sind nur noch an sich und ihrem Profit interessiert. Die Armen benötigen all ihre Kraft um im Kampf um das Überleben zu bestehen. Mädchen wie Ana, die unschuldig sind und nur überleben wollen, geraten in den Sumpf und werden schamlos ausgenutzt, getötet und wie Abfall liegen gelassen. Sie haben keine Stimme, wenn ich ihnen keine gebe.“ Er schaute zu Andrej. „Niemand kämpft für sie.“ Der Mann, der Wolk hiess, blickte weiterhin auf sein Glas, so dass sich Anton wieder Katja zuwandte. „Ich habe Ana zum Risiko gedrängt. Nun ist es an der Zeit, dass auch ich ein solches eingehe.“ Er schenkte sich nochmals Wodka ein und trank das Glas in einem Zug. „Ich muss noch einige Vorbereitungen treffen.“ Damit erhob er sich und ging in das Wohnzimmer, wo er seinen Computer hatte.
Katja starrte Andrej an, welcher immer noch sein Glas im Blick hielt. „Schau mich nicht so an.“ Sagte er schliesslich mit müder Stimme.
„Kannst du mit dir leben, wenn er stirbt?“ wollte sie von ihm wissen.
Wolk blickte zu ihr hoch und nickte. „Die Frage ist, ob er mit sich leben kann, wenn er es nicht versucht.“ Er wandte sich wieder seinem Glas zu, dann schaute er hinunter auf das Tagebuch von Ana, welches auf dem Küchentisch lag. „Die Welt ist düster. Engel fallen und kommen nicht mehr hoch.“